Der ignorierte Standard – Die deutsche Nationalmannschaft und der Eckball

„Ja, erst Eckball und dann Tor“ Oliver Kahn auf die Frage, wie er das 1:2 im Finale 1999 gegen Manchester erlebt hat.

Der Fußball hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Das Spiel ist schneller geworden, Schlagwörter wie Gegenpressing, Tiki-Taka, Heatmap und Ballbesitz bestimmen Berichterstattungen und Analysen. Bis ins Detail werden Laufwege interpretiert, Taktiken verglichen und Ballkontakte bewertet. Manchmal sind es aber die einfachen Elemente des Fußballs, die letztlich zum Erfolg führen.

Eine Standardsituation im Fußball gehört auch 2014 bei der WM in Brasilien weiterhin zum beliebtesten Spiel der Welt – der Eckball. Eine gute Eckballvariante kann der entscheidende Schritt zum Sieg sein, und mitunter sogar einer deutlich unterlegenen Mannschaft zum Erfolg verhelfen. In einem Spiel zweier Mannschaften, die sich auf Augenhöhe begegnen, sind Standards, und speziell Eckbälle, oftmals der Schlüssel zum Sieg.

 

Kleinigkeiten entscheiden über Sieg oder Niederlage

Joachim Löw setzt nicht auf Standards - Copyright DFB

Joachim Löw setzt nicht auf Standards – Copyright DFB

Im Hinblick auf die WM in Brasilien sollte gerade der deutschen Nationalmannschaft bewusst sein, wie wichtig gute Eckbälle für Erfolg und Misserfolg sein können. Oft wird vor den entscheidenden Partien bei großen Turnieren davon gesprochen, dass die Kleinigkeiten im Spiel den Unterschied ausmachen könnten. Das Trainerteam der deutschen Nationalmannschaft legt viel Wert auf unterschiedlichste Details. Laufwege werden einstudiert, das richtige Verhalten in der Vorwärts- bzw. Rückwärtsbewegung eingeübt, und, nicht zuletzt mit Blick auf die klimatischen Bedingungen in Brasilien, müssen die konditionellen Werte hervorragend sein.

Auf eine ähnlich akribische Vorbereitung vor Europa- und Weltmeisterschaften wird beim DFB schon lange großen Wert gelegt. Doch der letzte Titel wurde 1996 geholt. Was könnte also einer der Gründe für das Scheitern in den letzten Jahrzehnten sein? Vielleicht hilft dazu ein Blick auf die Statistiken der Halbfinal- und Finalspiele, die seit 2006 verloren wurden.

 

Die Statistik bei den Halbfinal- und Finalspielen seit 2006

2006 WM-Halbfinale Deutschland – Italien 0:2 n.V.

Das 0:1 durch Fabio Grosso fällt in der 119. Minute im Anschluss an einen Eckball der Italiener.

Eckenverhältnis 4:12

 

2008 EM-Finale Deutschland – Spanien 0:1

Das einzige K.O. Spiel in dieser Liste, bei dem kein Tor direkt, oder im Anschluss an eine Ecke erzielt wurde.

Eckenverhältnis 4:7

 

2010 WM-Halbfinale Deutschland – Spanien 0:1

Carles Puyol erzielt das entscheidende Tor in der 73. Minute per Kopf nach einer spanischen Ecke.

Eckenverhältnis 6:7

 

Kein Training von Eckbällen und Freistößen – Löw wettete gegen eigene Standards

Hansi Flick wettete gegen seinen eigenen Chef - Copyright DFB

Hansi Flick wettete gegen seinen eigenen Chef – Copyright DFB

Bei der EM 2008 und WM 2010 stellte der Bundestrainer das eigene Armutszeugnis sogar selber öffentlich zur Schau. Beim Turnier in Österreich und der Schweiz, sowie bei der Weltmeisterschaft in Südafrika, wettete Löw mit seinem Assistenten Hansi Flick, dass die deutsche Elf kein Tor nach Standards erzielen würde. Beide Male verlor Löw. Allerdings nicht, weil die DFB-Elf über besonders raffinierte Varianten bei Eckbällen verfügte. In Österreich traf Michael Ballack mit einem wuchtigen direkten Freistoß zum Sieg gegen die Gastgeber. In Südafrika lenkte Thomas Müller ebenfalls einen Freistoß zur Führung gegen Argentinien über die Linie.

Das Aus kam 2010 dann gegen Spanien. In einer taktisch geprägten Partie verlor die DFB-Elf durch einen Kopfballtreffer von Puyol. Erzielt nach einem Eckball. Nicht nur, dass die Nationalmannschaft keine eigenen Tore nach Ecken erzielte. Stattdessen fielen entscheidende Tore 2006 und 2010 bei den Eckbällen der gegnerischen Teams.

 

2012 EM-Halbfinale Deutschland – Italien 1:2

Die Krönung im negativen Sinn war dann das Halbfinale der Europameisterschaft 2012. Im Anschluss an eine deutsche Ecke konterte Italien und erzielt durch Mario Balotelli das 0:2 in der 36. Minute.

Die Vorentscheidung in diesem Spiel. Auch, weil die zahlreichen deutschen Eckbälle eher harmlos waren, und ohne nennenswerte Erträge blieben. Das deutsche Tor fiel nach einem Handelfmeter in der 92. Minute. Der einzige Treffer, den die DFB-Elf in den entscheidenden Spielen seit 2006 erzielen konnte.

Eckenverhältnis 14:0 (!)

 

Deutschland wie der FC Bayern im „Finale Dahoam“ – Harmlose Eckbälle

Das EM-Halbfinale 2012 ist aber aus einem weiteren Grund bemerkenswert. Ein paar Wochen zuvor hatte der FC Bayern das „Finale Dahoam“ gegen den FC Chelsea nach Elfmeterschießen verloren. Dabei konnten die Münchner trotz 20:1 Ecken kein Tor nach einem Eckball erzielen. Und damit nicht genug. Die Londoner nutzten ihren einzigen Eckball in der 89. Minute zum Ausgleich durch Didier Drogba. Der Ivorer wurde durch geschickte Laufwege seiner Mannschaftskollegen so freigeblockt, dass er frei zum Kopfball kam. Eine einstudierte Variante des einzigen Eckballs der Londoner führte zum Ausgleich.

Warum das Trainerteam des DFB angesichts dieses Beispiels den Standards weiterhin keinen gesteigerten Bedarf im Training beigemessen hatte, bleibt unverständlich.

 

Eine Bilanz des Schreckens – Eckbälle bei Spielen der DFB-Elf

Zusammengefasst ergeben die statistischen Daten aus den vier Spielen eine sehr schlechte Bilanz bei Eckbällen. Die deutsche Nationalmannschaft konnte in keinem der Spiele ein Tor nach Eckbällen erzielen. Auf der anderen Seite fiel ein Drittel der Gegentore direkt nach Ecken von Spanien oder Italien, und ein weiteres Gegentor indirekt nach einer deutschen Ecke. Das heißt die Hälfte der Tore, die vom Team des DFB kassiert wurde, standen im Zusammenhang mit einem Eckball.

 

Zusammenfassung der Halbfinal- und Finalspiele 2006-2012

Tore insgesamt:1:6

Tore nach Ecken oder im Anschluss an Eckbälle 0:3

Eckenverhältnis insgesamt: 28:26

 

Eckbälle 2014 wieder mit großer Bedeutung in der Champions League

Moderner Fußball und erfolgreiche Standards müssen sich auch nicht per se ausschließen, das zeigte Real Madrid auf dem Weg zum Titel in der Champions League.

In den Finalrunden bekam Joachim Löw Anschauungsunterricht von Carlo Ancelottis Team dafür, wie spielerische Klasse mit erfolgreichen Standards in Einklang gebracht werden können. Im Halbfinale erzielte Real Madrid die beiden ersten Tore beim 4:0 im Rückspiel in München nach Standards. Die Münchner hatten zudem in beiden Spielen zusammen ein Eckballverhältnis von 24:6, konnten aber dennoch kein einziges Tor gegen die Königlichen erzielen. Ähnlich wie Löw, ist Trainer Pep Guardiola eher kein Freund von klassischen Eckbällen.

Im Finale in Lissabon brachte dann Godin Atletico Madrid im Anschluss an einen Eckball in Führung. Wie 2012 Drogba, erzielte Ramos kurz vor Ende der regulären Spielzeit den Treffer zum 1:1 nach einer Ecke von Modric. Real gewann am Ende mit 4:1 nach Verlängerung.

 

Klose, Hummels, Mertesacker – Deutschland hat Eckballspezialisten

Törgefährlich durch Kopfbälle - Klose, Hummels und Mertesacker - Copyright DFB

Torgefährlich durch Kopfbälle – Klose, Hummels und Mertesacker – Copyright DFB

Mit Miroslav Klose, Mats Hummels, Per Mertesacker, Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira hat Deutschland einige Spieler in der möglichen Stammelf, die bei Eckbällen z.B. per Kopf für Gefahr sorgen könnten. Damit es 2014 zum Titel reicht, muss auch dieses Element des Fußballs von der deutschen Nationalmannschaft genutzt werden. Ansonsten könnte am Ende auch das große spielerische Potenzial der vielleicht besten deutschen Fußballergeneration aller Zeiten, durch einen einfachen Eckball wirkungslos bleiben.

Trotz des großen Trainingsaufwands und der offensiven Spielphilosophie gelang der deutschen Mannschaft in den 390 Minuten der aufgelisteten Partien, kein Tor aus dem Spiel heraus. Vielleicht wäre es an der Zeit, einfach mal eine halbe Stunde am Tag extra nur Eckbälle zu trainieren.

Am Ende dürfte es der Mannschaft und den deutschen Fans herzlich egal sein, wie der vierte Weltmeistertitel für Deutschland zustande kommt, ob per Eckball, oder nach einer tollen Kombination. Den letzten WM-Titel 1990 gewann Deutschland übrigens durch einen zweifelhaften Foulelfmeter. Wen, außer ein paar Argentiniern, interessiert das heute noch?

 

Eckbälle zu ignorieren heißt, Chancen zu verschenken!

Eckbälle und Standards sind also eine Variante, ein taktisch geprägtes Spiel auf hohem Niveau für sich zu entscheiden. Selbstverständlich sind sie nicht das einzige Mittel zum Sieg. Dieses Element des Fußballs aber zu ignorieren und es quasi von vorne herein auszuklammern ist fahrlässig. Durch fehlendes Eckballtraining beraubt sich die DFB-Elf eigener Chancen und kassiert im schlimmsten Fall sogar ein Gegentor nach einer gegnerischen Ecke.

Für Deutschland sollte es ab Montag heißen, der Ball ist rund, aber zur Not reicht auch eine Ecke zum Sieg!

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